Kirchenkreis Steinfurt Coesfeld Borken

Von alten Kirchentags-Hasen und neuen Bauklötzen

Redakteur Detlef Scherle von der Allgemeinen Zeitung Coesfeld berichtet von seinem Besuch auf dem Kirchentag.

Pfarrerin Claudia Raneberg aus Steinfurt (li.) im Quartier der Evangelischen Jugend in Hamburg (Foto: Detlef Scherle).

Selbst alte Kirchentags-Hasen, die in den vergangenen Jahrzehnten kaum ein Treffen verpasst und schon viel Ungewöhnliches erlebt haben, staunen in Hamburg bisweilen Bauklötze.  „Das war ein ganz schöner Kontrast“,  denkt Heidi Schuh, die mit einer fünfköpfigen Gruppe  aus Billerbeck angereist ist, an den Eröffnungsgottesdienst zurück. Wenige Meter von der Bühne mit Altar und Kreuz entfernt: ein Porno-Kino. Bunt blinkende Lichter-Reklame lädt links und rechts zu Table-Dance und Glücksspiel ein. In den Etagen darüber verfolgen leicht bekleidete Damen aus weit geöffneten Fenstern interessiert und verwundert, wer ihnen da im Kiez auf die Pelle rückt. „Man sah deutlich, was dort nachts los ist“, so die 46-jährige Billerbeckerin. Ein Tippelbruder mit Wermutflasche bahnte sich den Weg durch die dicht an dicht stehenden  mehr als 30.000 Gottesdienstbesucher: „Lasst mich durch. Es gibt Menschen, die wohnen hier.“

 Das Experiment, einen der Eröffnungsgottesdienste mitten auf der Reeperbahn abzuhalten, forderte offenbar beiden Seiten einiges an Toleranz ab. Aber es gelang. Und die Teilnehmer aus dem Kreis Coesfeld sind angetan von diesem Ansatz, dass  Kirche sich nicht abschottet, sondern hingeht zu den Menschen – gerade auch in Problemvierteln. „Da gehört Kirche hin“, drückt es Schuh aus. 

Corny Littmann, schillerndes St. Pauli-Original, Theatermacher und Unternehmer, erklärte im Gottesdienst, was den hier lebenden Menschen unten den Nägeln brennt – zum Beispiel, dass sie kaum noch bezahlbaren Wohnraum finden. Witz hat er auch. „Kleine Sünden verzeiht der liebe Gott doch“, provozierte er lautes Lachen, als er die Teilnehmer dazu ermunterte, am späten Abend wiederzukommen. 

„Dein Wort ergreift, lehre uns Handeln“, stimmten die Gottesdienstbesucher an. Von der Außenterrasse einer Szene-Kneipe kam Gegröle, aber der Gesang übetönte diesen. Katrin Göring-Eckardt, Präsidiumsmitglied, erklärte den Kirchentag auf der Reeperbahn offiziell für eröffnet. Und dann schwärmten die Besucher aus in die Stadt zum „Abend der Begegnung“ – ein buntes Fest mit viel Musik und kulinarischen Genüssen und besonderen Aktionen. Schuh war besonders beeindruckt vom Abendsegen, den sie in Gemeinschaft vieler Tausend anderer an der Binnenalster erlebte. „Alle bekamen Kerzen. Das war ein riesiges Lichtermeer“, erzählt sie. Bunte Wasserfontänen zur Musikuntermalung  gab es auf dem innerstädtischen See – eine perfekte Inszenierung.  Dann ging es müde, aber glücklich zurück zu den Quartieren, die für die Teilnehmer aus dem Kreis Coesfeld sehr nah in Poppenbüttel und Altona liegen. Viele trugen in den S- und U-Bahnen die blauen Kircheschals mit dem Motto: „So viel du brauchst“. „Da ist Gemeinschaft spürbar“, beschreibt Schuh das „Kirchentagsfeeling“. Die Stimmung sei gelöst, die Menschen sehr offen.

Einer aus dem Kreis Coesfeld erlebt den Kirchentag nicht so direkt, sondern erstmals eher „backoffice“: Ralf Kernbach, Diakon und Jugendreferent aus Dülmen, der in der Louise-Schröder-Schule in Altona als Quartiermeister fungiert, hat auch gestern von den zahlreichen Veranstaltungen, von der Bibelarbeit mit Margot Käsmann bis zur ZDF-Übertragung mit Bundespräsident Joachim Gauck, nichts  mitbekommen. Er sorgt mit einem Team von Helfern dafür, dass die anderen einen perfekten Kirchentag erleben, in dem er als „Mann für alle Fälle“ bereit steht, für das gesunde öko-faire Frühstück und die Nachtruhe sorgt. Der Lohn für die Mühen? „Die Zufriedenheit der Gäste“, sagt er. Viele hätten ihm gesagt, dass sie noch bei keinem Kirchentag ein so perfekt organisiertes Quartier vorgefunden hätten.

„Am ersten Abend war ich um zwei Uhr im Bett“, berichtet er. Im Feldbett wohlgemerkt. Die meisten schlafen auf Luftmatratzen. Wenn sie schlafen. Kirchentags-Abende sind lang. So hat eine Gruppe von Jugendlichen noch bis spät in die Nacht in der Mensa gesungen. Für den nächsten Abend will Kernbach ihnen sogar noch einen Flügel organisieren. Da kann die nächste lange Kirchentags-Nacht kommen.

Von Detlef Scherle