Kirchenkreis Steinfurt Coesfeld Borken

„Schutz und Empowerment sind wichtig“

Fachberaterin Tina Lindel spricht über Präventionsarbeit in den evangelischen Kitas

Tina Lindel (Foto: privat)

Tina Lindel ist Fachberaterin für Kindertageseinrichtungen im Evangelischen Kirchenkreis Steinfurt-Coesfeld-Borken und in dieser Funktion zuständig für die Beratung und Weiterentwicklung von 25 Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Qualitätsmanagement und Organisationsentwicklung, Inklusion und Kinderschutz. Insbesondere das Thema „Schutz vor sexualisierter Gewalt“ ist in den vergangenen Jahren ihr Hauptthema geworden. In den Jahren 2017 /2018 hat sie mit allen Kitas in einem großen Organisationsentwicklungsprozess die einrichtungsspezifischen Gewaltschutzkonzepte „Gut behütet – gut begleitet“ entwickelt und implementiert.

Wie wichtig ist das Thema sexualisierte Gewalt bereits in der Kita?
Betroffen zu sein von sexualisierter Gewalt hat leider keine Altersuntergrenze und ist schon deshalb ein wichtiges Thema in Kitas. Deshalb brauchen wir Kitas mit präventiven Strukturen im Bereich Personal und Pädagogik sowie Wissen rund um das Thema um Kindern zu helfen, die betroffen sind. Und da Wissen ein wichtiger Schutzfaktor ist, ist die Einbeziehung und Information von Eltern von großer Bedeutung.

Wo fängt sexualisierte Gewalt an?
Die Spannweite sexualisierter Gewalt fängt bei unangemessen sexualisierter Sprache und beschämenden Beleidigungen an und endet bei schwerem sexuellen Missbrauch durch EinzeltäterInnen oder organsierte Strukturen. Dazwischen findet sich die ganze Bandbreite, die in diesem Bereich relevant ist. Besonders verbreitet ist der Konsum von kinderpornographischen Darstellungen.

Und wie oft kommt so etwas vor?

In Deutschland gibt es dazu keine eindeutigen Zahlen. Erhoben werden hierzulande nur die Fälle, die polizeilich erfasst wurden. Die WHO fordert deshalb genauere Untersuchungen, um das Ausmaß besser einschätzen zu können. Laut Schätzung der WHO reden wir in Deutschland von etwa 1.000.000 Kindern und Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt durch Erwachsene erfahren haben oder aktuell noch erleben.
Betrachtet man die Daten der Ermittlungsbehörden, ist ein Anstieg in allen Bereichen sexualisierter Gewalt zu verzeichnen.
Die Zahlen und Anstiege sind jedoch schwer eindeutig einzuordnen. Das Hellfeld ist (noch) relativ gering ausgeleuchtet und das Dunkelfeld (vermutlich) deutlich größer.

Gibt es ein typisches Täterprofil?

TäterInnen kommen aus allen sozialen Schichten, sind sowohl männlich als auch weiblich (etwa 80 zu 20) und sind in allen Altersklassen zu finden. Sie üben Gewalt an Kindern durch sexuelle Handlungen aus. Oftmals stammen TäterInnen aus dem familiären Umfeld oder dem sozialen Nahfeld der Kinder.

Gibt es eine typische Vorgehensweise von Tätern?
Ja, es gibt große Parallelen im Vorgehen von Tätern und Täterinnen. Hieran lassen sich die sogenannten TäterInnenstrategien erkennen und wiedererkennen. Man muss wissen, dass sexualisierte Gewalt zu 95% der Fälle zielgerichtet und lange angebahnt geschieht. Zentrale und häufige Gemeinsamkeit in der Vorgehensweise ist zunächst das Erschleichen von Vertrauen des Kindes und dessen Umfeld. Das macht es den Betroffenen so schwer, fast unmöglich, die Gefahr zu erkennen. Wenn das Kind spürt, dass etwas falsch läuft, haben die TäterInnen es oft bereits so stark verunsichert und das Umfeld geblendet, dass es sich nicht anvertrauen kann und will. Im Umfeld wird die Not des Kindes oft nicht erkannt oder fehlinterpretiert. Deshalb sind Präventionsveranstaltungen für Fachkräfte und Eltern ungemein wichtig. Das Wissen um die Strategien der TäterInnen schafft Raum für Schutz und Hilfe.

Worauf sollten Eltern achten? Welche Anzeichen könnten auf Missbrauch hinweisen?
Signale von Kindern, die auf sexualisierte Gewalt hindeuten sind so vielfältig, wie auch uneindeutig.
Sollten sich Kinder jedoch einer erwachsenen Person anvertrauen oder durch bestimmte Äußerungen eine Vermutung, dass das Kind betroffen ist, nähren, ist es zunächst wichtig dem Kind einfach zu glauben und seine Äußerungen nicht in Frage zu stellen. Auch übermäßige Reaktionen wie Gefühlsausbrüche, Mitleidsbekundungen oder Beleidigungen in Richtung des Täters / der Täterin sollten unterbleiben. Wichtig ist eine zugewandte Art, ruhig zu bleiben, dem Kind zu signalisieren, dass man jederzeit gesprächsbereit ist. Besonders zu beachten ist, dass keine nachbohrenden Fragen oder gar suggestive gestellt werden. Hier macht es Sinn, das eigene Bedürfnis nach Wissen zurückzustellen. Danach sollte man direkt eine Beratungsstelle kontaktieren und sich selbst Rat holen, wie am besten vorzugehen ist.

Was können Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben?
Für Kinder ist es von großer Bedeutung, dass sie mit ihren Eltern offen über alles sprechen können. Auch über Fehler und Fehlverhalten, ungute Gefühle und Geheimnisse, die bedrücken. Täter und Täterinnen versuchen Kinder zu beeinflussen, indem sie Schuldgefühle wecken, eigenes Fehlverhalten als Begründung für die Gewalt anführen und Strafe bei Offenbarung des Geheimnisses androhen. Haben die Kinder das Gefühl, sich trotzdem anvertrauen zu können , ist dies elementar.
Es gibt viele tolle Bilderbücher, die kindliche Sexualität thematisieren und auch, was man tun kann, wenn sich etwas nicht gut anfühlt. Mit Kindern solche Bücher immer mal wieder zu betrachten, ist insbesondere der Entwicklung der eigenen sexuellen Identität und gleichzeitig der sexuellen Selbstbestimmung dienlich.
Die richtige Benennung von Geschlechtsteilen und Offenheit für Fragen der Kinder bedeuten mehr Schutz.

Wo finden Betroffene Hilfen?

Das Land NRW hat im Laufe der letzten Zeit viele spezialisierte Fachstellen zur Beratung von Betroffenen und / oder Angehörigen in vielen Orten eröffnet.
Das „Hilfetelefon sexueller Missbrauch“ der Bundesregierung bietet anonyme Beratung und informiert über Beratungsstellen in der Nähe. Diese Stellen zu kontaktieren, wenn man selbst betroffen ist oder die Vermutung hat, dass jemand im Umfeld betroffen ist, ist immer sinnvoll. Hier wird betroffenenorientierte Hilfe angeboten.

Zurück in die Kita: Wie wichtig ist es hier, das Team entsprechend zu schulen?
Die Zahlen von betroffenen Kindern und Jugendlichen sind hoch. Die Wahrscheinlichkeit in der Kita betroffene Kinder zu betreuen also nicht von der Hand zu weisen. Die Schulung von Fachkräften ist zwingend erforderlich, um schützende und helfende Strukturen, Fachwissen, Handlungsfähigkeit, Blickschulung und das Bewusstsein „das Unmögliche für möglich halten“, den Kindern eine hilfreiche Ansprechperson zu sein, fest zu implementieren. Kinderschutz oder Schutz vor sexualisierter Gewalt hat dabei immer zwei Säulen: Schutz und Empowerment, deshalb heißen unsere Gewaltschutzkonzepte „Gut behütet – gut begleitet“.

Gabi Kowalczik, Borkener Zeitung / www.borkenerzeitung.de