Kirchenkreis Steinfurt Coesfeld Borken

Ein weises Herz

Zwei 101-jährige Burgsteinfurterinnen im ZDF-Fernsehen zur Kirchentagslosung

Margarete Horn und Wilhelmine Nolte vor der ZDF-Fernsehkamera (Fotos: Felix Staffehl / Katrin Kuhn)

 „Während meiner Lebenszeit hat sich die Welt um 180 Grad gedreht“, sagt die 101-Jährige Margarete Horn. Diese Bilanz kann die gleichaltrige Wilhelmine Nolte mit ihr teilen. Bei ihrer Rückschau auf mehr als ein ganzes Jahrhundert haben sie sich beide ihren wachen, lebendigen Blick bewahrt. Die beiden Frauen sind die ältesten Bewohnerinnen des Evangelischen Altenhilfezentrums in Burgsteinfurt unter der Trägerschaft des Ev. Pertheswerks. Sichtlich gut verstehen sich die beiden mit dem Leiter des Altenhilfezentrums Felix Staffehl, der ihnen so viel Selbständigkeit wie eben möglich bietet. Margarete Horn kommt im "Betreuten Wohnen" sogar noch ganz allein in ihrem Alltag zurecht.

Gibt es so etwas wie die „Weisheit des Alters“? Danach fragt die ZDF-Sendereihe am Sonntag, den 7. Juni, im Zusammenhang mit dem 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart und seiner Losung  „Damit wir klug werden“. Unmittelbar vor der Live-Übertragung des großen Abschlussgottesdienstes am Sonntagmorgen werden die beiden Steinfurterinnen mit dem biblischen Alter ihre persönliche Sichtweise dazu vor der ZDF-Kamera präsentieren. 
„Damit wir klug werden“: Die Kirchentagslosung ist, wie schon in den vergangenen Jahren, ein Halbsatz. Ein Fragment, das sich zunächst nach allen Seiten offen hält. Wie wenig das Motto mit reinem Wissen und Intellekt zu tun hat, ergibt sich erst aus dem biblischen Kontext. In der Lutherübersetzung lautet der Psalm 90, 12:  „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“  Damit wird klar: Die Losung zielt auf eine Lebenshaltung. Die wörtliche Übersetzung des hebräischen Originaltextes macht das noch deutlicher: „Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz bekommen.“ 
Worin besteht die Weisheit eines über hundertjährigen Herzens? Viel erlebt haben die beiden alten Damen – und ebenso viel zu erzählen. Als sie das Licht der Welt erblickten, tobte der 1. Weltkrieg in Europa: eine Kindheit ohne Väter. Und ebenso vaterlos wuchsen ihre eigenen Kinder eine Generation später im 2. Weltkrieg heran. Erzählstoff für ein ganzes Buch bieten allein schon ihre Erfahrungen aus jenen bewegten Jahren. „Ich hatte zum Glück meine Eltern und Schwiegereltern in der Nähe“, sagt Wilhelmine Nolte, die zu der Zeit in der Obergrafschaft bei Schüttorf lebte. Der gute Zusammenhalt in der Familie war ihr zeitlebens wichtig  – vor allem auch während der schweren Jahre, die ihr Mann im Krieg und in französischer Kriegsgefangenschaft verbrachte. Oft machte sie sich damals mit ihrer kleinen Tochter vergeblich auf den Weg zum Bahnhof in der Hoffnung, dass ihr Mann unter den Heimkehrern war. 1948 war es endlich soweit. Einer der schönsten Momente ihres Lebens ist für sie im Rückblick ihre Umarmung beim Wiedersehen nach den acht Jahren der Ungewissheit. „Das war noch schöner als bei der Hochzeit“, erinnert sie sich. Denn schließlich wussten sie da: „Von jetzt an geht es gemeinsam weiter.“

Margarete Horn, die in Essen lebte, musste während der Bombenangriffe mit ihren zwei Kindern mehrfach evakuiert werden. Dadurch kam sie schon während der Kriegs viel herum, begegnete den verschiedensten Menschen und kann von unzähligen, tragischen, beglückenden wie skurrilen Begebenheiten so lebendig erzählen, als wären sie gestern passiert. Mit ihrem Mann, der 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, unternahm sie später viele gemeinsame Reisen. Ihre Offenheit und ihr Interesse für Neues, Fremdes hat sie sich seitdem bewahrt.

Was hat nun die beiden Frauen, mit Luther gesprochen, „klug werden“ lassen? War es der sprichwörtliche Schaden? Sicherlich auch. Schaden im weitesten Sinne:  Verlusterfahrungen, Nöte, Sorgen – und das spätere Vergleichen und Relativieren-Können. Auch das verhilft zum Loslassen, sind sich die beiden Frauen sicher. „Ich bin nun jederzeit bereit zu gehen“, sagt Margarete Horn über ihren eigenen Tod. Und auch Wilhelmine Nolte sagt: „Jeder Tag zählt.“ Es ist diese abschiedliche Haltung, die ihnen neue Maßstäbe bei der Lebensbetrachtung schenkt.  Aus der Perspektive des Endes ordnen sich ihnen die Dinge neu, schenken ihnen einen unbestechlichen  - eben „klugen“ - Blick dafür, welches Gewicht sie im Leben wirklich haben. „Wenn ich morgen die Augen schließen sollte, dann tue ich das gern“, meint Margarete Horn von sich. „Aber bis dahin lebe ich auch noch ganz gern, mische mich ein - und nehme kein Blatt vor den Mund“, fügt sie hinzu, und ihre wachen blauen Augen blitzen. So erwecken die beiden Frauen ein wenig den Eindruck, die Dinge gleichsam „von oben“ zu betrachten, während sich jede Menge gelebtes Leben unter ihnen aufgeschichtet hat und an Goethes „Türmer“-Blick denken lässt:

„Ihr glücklichen Augen, 
was je ihr gesehen, 
es sei wie es wolle, 
es war doch so schön.“