Zerlumpt und mit leeren Händen standen sie am Ende des Zweiten Weltkrieges vor den Häusern der einheimischen Bauern, von örtlichen Behörden eingewiesen und nicht unbedingt begeistert aufgenommen. Ein kleiner Handwagen, ein Koffer oder ein Rucksack waren die wenigen Habseligkeiten, die die Flüchtlinge auf ihren endlosen Trecks in den Westen mitgebracht hatten – vertrieben, entwürdigt und entwurzelt.
„Sie brachten Kirche mit“
Wie viel mehr sie in Wahrheit mitbrachten, trat erst rückblickend zutage. Aus dem vielschichtigen kulturellen und konfessionellen Erbe, das sie nach der erfolgreichen Integration in die Nachkriegsgesellschaft einbrachten, wuchs zum Beispiel gerade in den einseitig-konfessionell geprägten Gebieten wie dem Münsterland ein neues, reges evangelisches Gemeindeleben.
Kirchengemeinden gründeten sich, Konfirmandengruppen entstanden, Posaunen- und Kirchenchöre wurden aufgebaut, und bereits nach wenigen Jahren wurden zahlreiche Gotteshäuser neu errichtet, wo früher ein kleiner Gemeindesaal seine Zwecke erfüllt hatte. Der Ausspruch über die Flüchtlinge, „Sie brachten Kirche mit“, kann daher in den Diasporagebieten teilweise geradezu wörtlich verstanden werden.
Das dokumentiert die eindrucksvolle Wanderausstellung über Flucht und Vertreibung, die Haupt- und Ehrenamtliche im Evangelischen Kirchenkreis Steinfurt-Coesfeld-Borken 2013 zum Themenjahr „Reformation und Toleranz“ erstellt haben. Unter der Überschrift „Aus Erinnerung erwächst Verantwortung“ thematisiert die Schau auf zwölf Tafeln das Ankommen der Flüchtlinge im Westmünsterland. Die Retrospektive widmet sich dabei insbesondere der Flüchtlings- und Vertreibungsgeschichte evangelischer Christen in ihrer neuen Heimat.
Kreiskirchliche Ausstellung wandert durch Niederbayern
Dass die Ausstellung, die in den Jahren 2013 und 2014 durch zahlreiche Kirchengemeinden im Westmünsterland wanderte, im vergangenen Jahr auch in mehreren Gemeinden Niederbayerns – etwa in Aufhausen, Geiselhöing, Landau, Schierling, Landshut, Altdorf und Rottenburg – umherging, ist ein besonders schönes Zeichen ihrer überregionalen Tragweite und Brisanz. Tatsächlich gibt es in Bayern viele Parallelen zu den konfessionellen Verhältnissen im Münsterland vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.
So verachtfachte sich die Zahl der Protestanten im katholisch geprägten Niederbayern quasi „über Nacht“ durch den Zustrom der Flüchtlinge und Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland. Damit begann auch hier die Geschichte vieler evangelischer Kirchengemeinden, die vorher nur aus einer Handvoll Protestanten – Ärzten, Bahnbeamten und wenigen anderen – bestanden hatten. „Die Geschichte der evangelischen Christen in unserer Region ist in ganz besonderer Weise auch mit dem Schicksal der Heimatvertriebenen verbunden, die nach Kriegsende bei uns eine neue Heimat gefunden haben“, erklärte Pfarrer Ulrich Fritsch von der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Geiselhöing bei Straubing. Die Gemeinde begleitete die Ausstellung gemeinsam mit dem regionalen Arbeitskreis der SPD, nachdem sie sie um eine weitere Tafel mit Dokumenten zur Geschichte in ihrer eigenen Region ergänzt hatte.
Lehren ziehen aus Flucht und Vertreibung
Nicht nur die Parallelen zwischen den Diaspora-Regionen im Münsterland und in Bayern verweisen auf die große Tragweite der bemerkenswerten Schau „Aus Erinnerung erwächst Verantwortung“. Wie selbstverständlich schlugen so auch die niederbayrischen Aussteller die Brücke zur aktuellen Asylproblematik, indem sie eine Tafel zu Fluchtgeschichten von Flüchtlingen der Gegenwart aus Eritrea hinzufügten.
„Dass wir mit der Ausstellung, die wir im Herbst 2014 planten, ein so aktuelles und hochpolitisches Thema aufgreifen würden, hatte niemand erwartet“, sagte die Landshuter Landtagsabgeordnete Ruth Müller, die sie als Schirmherrin begleitete. Beispielhaft verdeutlicht die Ausstellung, wie die Erfahrung aus Flucht und Vertreibung sowie das Erlebnis erfolgreicher Integrationsleistung und kultureller Bereicherung helfen können, auch heute menschenwürdig, unvoreingenommen und offen auf Flüchtlinge zuzugehen.
Dr. Katrin Kuhn
Weiterführende Informationen zu der kreiskirchlichen Wanderausstellung finden Sie hier >>>