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Nur teils sichere Herkunftsstaaten

Elvira Ajvazis spricht in Emsdetten über das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten der Bundesregierung und die Situation der Roma in Europa.

Elvira Ajvazis (re.) neben Pfarrerin Dr. Britta Jüngst von der Evangelischen Kirchengemeinde Emsdetten.

Walter Raimovic versteht die Welt nicht mehr: Zwölf Jahre besuchte der junge Mann eine Schule in seiner deutschen Heimatstadt. Er ist in Lohn und Brot, stolzer Vater eines 18 Monate alten Kindes und glücklich verheiratet. Lediglich ein deutscher Pass, der fehlt ihm. Deswegen weisen deutsche Behörden den jungen Roma nach Serbien aus. Dabei spricht Walter kaum Serbisch. Seine Frau und die kleine Tochter bleiben in Deutschland zurück. Für den jungen Mann eine Katastrophe.

„Rund die Hälfte der abzuschiebenden Roma sind in Deutschland geboren“, erklärt Elvira Ajvazis in den Räumen der AWO in Stroetmanns Fabrik in Emsdetten. Auf Einladung der Evangelischen Kirchengemeinde Emsdetten und der Emsdettener Bleiberechtsinitiative spricht die im kroatischen Zagreb geborene Serbin über das Konzept der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten und die Situation der Roma in Europa. Die ethnische Gruppe der Roma gilt heute als größte Minderheit in Europa.

Leidenschaftlich und authentisch berichtet die dreifache Mutter vom Schicksal junger Roma, die sich oftmals zwischen den Welten, zwischen Grenzen und Nationen bewegen. Anhand zahlreicher Filmbeiträge, engagierten Schilderungen und großer Sachkenntnis schildert Ajvazis die Grenzen des Konzeptes sicherer Herkunftsstaaten. „Die meisten Roma entsprechen nicht dem Klischee des sogenannten Wirtschaftsflüchtlings“, meint die Referentin vor rund 50 Zuhörenden. „In vielen Staaten, insbesondere auf dem Balkan, drängen Behörden und Bevölkerung die Gruppe der Roma an den Rand der Gesellschaft“, so Ajvazis weiter.

Das sei zwar keine politische Verfolgung im Sinne des deutschen Asylrechts. Dennoch müssten viele Roma heute als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention gelten, welche den Begriff der Flucht weiter fasst als das deutsche Grundgesetz.

Auch wenn die persönlichen Schilderungen der Betroffenen, festgehalten in Kurz- und Dokumentarfilmen, von einer großen Hilflosigkeit geprägt sind, weist Ajvazis auf zahlreiche Probleme grundsätzlicher Natur hin. So fühlt sich Walter Raimovic nach seiner Ankunft in Serbien in Afrika ausgesetzt und weiß nicht weiter. „In Kroatien, Serbien oder Mazedonien begegnen die Roma einer immensen Ausgrenzung und systematischen Diskriminierung“, benennt Ajvazis das Problem vieler Roma. So wird ein Schulbesuch vielfach verwehrt, für Roma gibt es kaum Erwerbsarbeit und in vielen Medien werden sie als Asylbetrüger defamiert. Vielen Roma bleiben das Sortieren und Recyceln von Müll, die Saisonarbeit in der Landwirtschaft oder die Flucht. Die Ausweitung des Konzeptes sicherer Herkunftsstaaten durch die Bundesregierung im Herbst 2015 macht die Lage vieler Roma nicht leichter.

„Wir Roma müssen uns stets doppelt engagieren: Um die Integration in die Gesellschaft und um die eigene Existenz“. Folglich lebt auch Ajvazis in zwei Kulturen. In Münster liest die Mitarbeiterin des Roma-Lehrervereins Kindern Geschichten in Romanes vor, der traditionellen Roma-Sprache. Sie arbeitet als Dolmetscherin und Übersetzerin und engagiert sich ehrenamtlich für die Situation der Roma in Europa. Alle zwei Jahre verlängern seither deutsche Behörden ihre Aufenthaltsgenehmigung. Ein Dauerbleiberecht, gar einen deutschen Pass, hat Ajvazis keinen.

Das Interesse an der Situation vieler Roma zwischen systematischer Diskriminierung, geringen Einkommensmöglichkeiten und fehlenden Perspektiven spiegelt auch die Diskussion in Emsdetten wider. „Warum organisieren Sie sich nicht in einem Dachverband, machen auf die Lage der Roma aufmerksam?“, möchte eine Zuhörerin wissen. Ajvazis Antwort ist so einfach wie erschreckend. Zwar gebe es durchaus Formen der Selbstorganisation, Interessenvertretungen und Verbände. „Die meisten Menschen aber sind mit der puren Sicherung ihrer Existenz jeden Tag neu herausgefordert. Da bleibt keine Kraft für politisches Engagement“, so Ajvazis weiter. 

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