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Wichtige Worte zum Weltflüchtlingstag

Anlässlich der diesjährigen Sommersynode am Weltflüchtlingstag predigte Pfarrerin Dr. Britta Jüngst in der Evangelischen Kirche in Ochtrup. Im Folgenden finden Sie ihre Predigt im Wortlaut.

Pfarrerin Dr. Britta Jüngst

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich vor, ich wäre 20 cm größer, blond, 25 Jahre jünger, trüge weiß statt schwarz. Sie sähen mich durch einen Weichzeichner, der mich sanft und etwas nostalgisch erscheinen lässt. Und dann beug ich mich so vor und sage: „Play it, Sam“!

Sie kennen es bestimmt: „As time goes by“ aus dem wunderbaren Film „Casablanca“.

Ich liebe Casablanca! Unvergessen Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart. Leidenschaft und Verzicht, Liebe und Ehre. Großes Kino, großes Drama. 
Flüchtlingsschicksale, die sich in Ricks Café im damaligen französischen Protektorat Marokko kreuzen. Menschen warten dort auf ein Transitvisum, um sich vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Sie spielen Karten, trinken, reden und warten. Der tschechische Widerstandskämpfer Victor Laszlo taucht dort auf. Er braucht für sich und seine Frau Ilsa Transitvisa. Und bekommt sie schließlich von Rick, dem Cafébesitzer. Den hatte eine unglückliche Liebe von Paris nach Casablanca gespült, desillusioniert und zynisch. Denn die Frau, die er liebte und mit der er Frankreich hatte verlassen wollen, war nicht am Treffpunkt erschienen. Es war Ilsa.  „Ich schau dir in die Augen, Kleines“, sagt er.

Seitdem ich erfahren hatte, dass Rick–Bogart neben Ilsa-Ingrid auf einem Kissen sitzen musste, um von ihr nicht überragt zu werden, seitdem – muss ich gestehen – sehe ich diese unerfüllte Liebe etwas nüchterner. 
Und doch: eine dramatische, bewegende Geschichte. Heute bewegt sie mich vor allem, wenn ich mir die Liste der Schauspielerinnen und Schauspieler ansehe: nur wenige aus Amerika, die meisten europäischer Herkunft, viele, die nach der Machtübergabe vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren, die meisten von ihnen jüdisch.

Der Ganove in Casablanca ist Italiener, denn das faschistische Italien stand ja an der Seite des faschistischen Deutschland. Der Ganove ist Peter Lorre, ehemals Lazlo Löwenstein, viel beschäftigter Schauspieler in Deutschland und Österreich. Er verließ Wien Ende 1933 und ging über Paris in die Vereinigten Staaten. Ilka Grüning, österreichische Schauspielerin, emigrierte 1938 in die USA. Als Frau Leuchtag lernt sie in Ricks Café auf rührende Weise zusammen mit ihrem Mann Englisch. Trude Berliner spielt in Casablanca Baccara. Sie emigrierte 1933 über Prag, Wien, Paris in die Niederlande und von dort aus 1940 über Lissabon in die USA. Ungefähr die Route, die die Flüchtlinge in Ricks Café noch vor sich haben.

Der Schauspieler Conrad Veidt wollte 1933 ein Zeichen setzen gegen die zunehmende Bedrängung seiner jüdischen Schauspielerkolleginnen und –kollegen. Er übernahm die Rolle des Jud Süss in einer englischen Verfilmung des Feuchtwangerromans. Goebbels tobte. Doch Conrad Veidt gingen Toleranz und Weltoffenheit über alles. Er musste 1934 nach England auswandern.

In Casablanca ist er der deutsche Major Strasser und dirigiert „Die Wacht am Rhein“. Ursprünglich war das Horst-Wessel-Lied an dieser Stelle geplant. Ein Verfolgter singt die Lieder der Verfolger. Ich frage mich, wie das für Conrad Veidt, den erklärten Nazigegner, war, in Casablanca das Gesicht des Deutschen Reiches zu sein, seine Stimme der Nazipropaganda zu leihen und sich hineinzuversetzen in den Major. Conrad Veidt hat über sich selbst gesagt, er infiziere sein ganzes Wesen mit der Rolle, die er darzustellen habe, er verwandle sich in den Menschen, den er spielen würde. Zu fühlen, was die anderen fühlen, ihr menschliches Schicksal in sich aufzunehmen, ihr Leben zu leben. Das setzt Einfühlungsvermögen voraus, Empathie, die Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen und darauf angemessen zu reagieren. Genau das ist es, was dem Volk Israel – mit umgekehrten Vorzeichen – immer wieder aufgetragen wird. Sich hineinzuversetzen in „die anderen“, besonders in die Fremden, die Flüchtlinge. „.. einen Fremden sollst du nicht bedrücken und ihn nicht bedrängen, denn Fremde seid ihr gewesen im Land Ägypten,“ heißt es im 2. Buch Mose (Ex 22,20).

Als Fremde wurden in Israel Menschen bezeichnet, wenn sie dauerhaft lebten, wo sie von Haus aus nicht hingehörten, wo sie keine Verwandtschaft und keinen Grundbesitz hatten. Das galt sowohl für Angehörige eines anderen israelitischen Stammes wie für Angehörige anderer Völker und Religionen. Fremde waren nicht nur arm. Sie konnten auch ihr Recht nicht selbst zur Sprache bringen und durchsetzen, waren rechtlos. Die Fremden nicht zu bedrücken heißt hier vor allem: den Rechtlosen Recht zu verschaffen. Wird Israel diesem Anspruch der Tora Gottes nicht gerecht, droht die Beziehung zu Gott zu zerbrechen.

Als das Nordreich Israels von Assyrien besiegt wurde, löste das einen wahren Flüchtlingsstrom aus in Richtung Süden. Das Stadtgebiet von Jerusalem dehnte sich explosionsartig aus. Die Grausamkeiten des assyrischen Heeres hatten nicht nur die Menschen im Nordreich Israel zur Flucht gedrängt, sondern auch andere Völker betroffen und in den Süden, nach Juda fliehen lassen. Unabhängig von der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit gilt der Anspruch Gottes: „Einen Fremden sollst du nicht bedrücken und ihn nicht bedrängen.“

Und mehr noch: Die Fremden sollen nicht nur in Sicherheit leben können, sondern auch materiell unterstützt werden. Daran wird gerade in schwierigen Zeiten erinnert, in denen auch viele Israeliten um ihr Überleben kämpfen mussten. Und mehr noch, sagt das 5. Buch Mose: „Gott liebt die Fremden und gibt ihnen Brot und Kleidung. Ihr sollt die Fremden lieben, denn auch ihr seid in Ägypten Fremde gewesen“ (Dtn 10,19).

In der Liebe Gottes wie in der eigenen Vergangenheit gründet die Forderung, die Fremden so zu lieben, wie Gott sie liebt, und so an ihnen zu handeln, wie Gott an Israel selbst handelt und gehandelt hat. Das biblische Gebot der Nächstenliebe, das Jesus ja schon aus seiner hebräischen Bibel kannte, wird hier um das Gebot der Fremdenliebe ergänzt. Und das bedeutet auch: gleiches Recht für alle, für Fremde wie für Israeliten. Damit identifiziert sich Gott. Damit identifiziert sich Jesus, wenn er sagt: „…ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. …

Uns trennen heute, am Tag des Flüchtlings 2012 Welten davon, Fremde so aufzunehmen und sie zu lieben. Der Soziologe Heitmeyer weist in einer Studie nach, dass Kirchenmitglieder nicht weniger fremdenfeindlich sind als der Rest der Gesellschaft. Die europäischen Außengrenzen sind dicht gemacht, dass es dort kaum noch ein Durchkommen gibt. Im letzten Jahr starben so viele Flüchtlinge wie nie zuvor auf dem Mittelmeer beim Versuch, Europa zu erreichen.  Sie wurden Opfer unterlassener Hilfeleistung.  Denn „Hilfe gilt als Fluchtanreiz. Deshalb laufen keine Hilfsschiffe der Marine aus, deshalb gibt es keine europäischen Hilfs- und Aufnahmeprogramme. Der Tod der Flüchtlinge ist Teil einer Abschreckungsstrategie“ (H. Prantl). Demnach würde heute kaum jemand in Ricks Café sitzen. Wer es dennoch nach Deutschland schafft, muss oft  mit weniger als 2/3 der Hartz-IV-Sätze auskommen. Dagegen scheint das Warten in Casablanca in Ricks Café geradezu idyllisch.

Sich hineinversetzen in „die anderen“, die Fremden, die Flüchtlinge. Das ist der Hebräischen Bibel ebenso wichtig wie die Einzigkeit und Unvergleichbarkeit des Gottes Israels. Sich hineinversetzen in die Fremden und ihnen freundschaftlich zu begegnen, daran entscheidet sich auch für das Neue Testament, ob Menschen Gemeinschaft mit Jesus haben oder nicht - Paulus würde sagen, daran entscheidet sich, ob sie, ob wir „allesamt eins in Christus“ sind, Gemeinde, Kirche.

Und jetzt reizt es zu schließen mit dem Schlusssatz aus Casablanca vom Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Doch das tu ich nicht. Ich schließe mit der eindringlichen Bitte und Erinnerung Gottes: 
„Ihr sollt die Fremden lieben, denn auch ihr seid in Ägypten Fremde gewesen.“

Amen.