Kirchenkreis Steinfurt Coesfeld Borken

Die Bibel zum Leben erwecken

Schulreferentin Kerstin Hemker und Pfarrerin Dörte Philipps führen Pädagogen und Theologen in die Methode des Bibliolog ein.

Biblische Motive zum Leben erwecken: Die Teilnehmerinnen des Bibliologkurses der Evangelischen Kirchenkreise Steinfurt-Coesfeld-Borken und Tecklenburg mit Referentin Dörte Philipps (hintere Reihe, 2. v. l.) und Schulreferentin Kerstin Hemker (vorne rechts).

Es ist bedächtig und ruhig im Seminarraum des evangelischen Kreiskirchenamtes in Steinfurt. Still und voller Neugier sitzen die Teilnehmenden des Bibliolog-Kurses im Stuhlkreis zusammen. „Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes“. Leise, gefühlvoll liest Dörte Philipps aus dem Lukas-Evangelium vor. Mit ruhiger langsamer Stimme fährt sie fort: „Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten’s nicht. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn“. Was aber ging wohl vor in Maria und Josef, den jungen Eltern, die ihren einzigen Sohn vermissen in mitten einer Großstadt voller Pilger, fremdländischer Menschen und römischer Besatzungsmacht? „Ich habe so eine Angst um meinen Jungen“, schallt es angstvoll in den Kreis. Eine andere Teilnehmerin ist sauer. Der Bengel könne sich auf was gefasst machen, heißt es da. 

Was sich ungewohnt, ja merkwürdig anhört, führt die sieben Teilnehmenden in Steinfurt in die Methode des Bibliolog ein. Auf Einladung von Kerstin Hemker, Schulreferentin der Evangelischen Kirchenkreise Steinfurt-Coesfeld-Borken und Tecklenburg, vermittelt Pfarrerin Dörte Philipps aus Mettingen sieben interessierten Theologinnen und Pädagoginnen mit dem Bibliolog eine noch junge Methode, alte Bibeltexte neu zu entdecken. An zwei Wochenenden im Februar und im März entdeckt die erfahrene Bibliologin mit den Teilnehmerinnen aus ganz Westfalen die „Zwischenräume“ der biblischen Texte. Seltsam unüblich und sonderbar mutet im ersten Augenblick der Blickwechsel an. Im Verlauf des Bibliologs schlüpfen die Teilnehmenden nacheinander in die Perspektive biblischer Figuren. In diesen Rollen füllen sie das „weiße Feuer“, den Raum zwischen den Zeilen, mit eigenen Ideen und gewinnen so einen lebendigen Zugang zu dem „schwarzen Feuer“ des geschriebenen Textes. Biblische Geschichte und eigene Lebensgeschichte verweben sich auf diese Weise ganz neu miteinander und legen sich gegenseitig aus.

„Es gibt ein neues Interesse an der Bibel“, sagt Schulreferentin Hemker. „Gerade im schulischen Religionsunterricht suchen Lehrerinnen und Lehrer neue Zugänge, die den Kindern und Jugendlichen das Entdecken biblischer Texte ermöglichen“. Mit seinem klaren Aufbau und einem überschaubaren Zeitrahmen von 15 bis 30 Minuten schafft der Bibliolog diesen Zugang und lädt Kinder, Jugendliche wie Erwachsene zum Erleben, Erzählen und Einfühlen in biblische Motive ein. 

Verwurzelt in der jüdischen Tradition des Midrasch, entwickelte der jüdische US-Amerikaner Peter Pitzele in New York den Ansatz des Bibliolog. Nicht ohne Grund wurzelt dieses Neu- und Weitererzählen biblischer Texte in der jüdischen Kultur. Die rabbinische Auslegungsweise des Midrasch füllt textliche Lücken der Tora bis heute kreativ. Dabei unterscheidet die rabbinische Hermeneutik zwischen dem Buchstabengehalt der biblischen Texte, dem „schwarzen Feuer“ und dem „weißen Feuer“ als dem Raum zwischen den Zeilen und Worten.

Eigen ist der Methode der stringente Aufbau. Einer Heranführung an Methode und Bibelstelle folgt die eigentliche biblische Erzählung, die eine Identifikation mit Gestalten und Gegenständen erleichtert. Dort, wo das „weiße Feuer“ lodert, laden Bibliologe oder Bibliologin dann zum so genannten „Enroling“ ein, zum Hineinversetzen, Weitererzählen und Entdecken. Nachdem einzelne Teilnehmende sich in die biblischen Figuren hineinversetzt haben, wiederholt Dörte Philipps das Gesagte. Auf diese Weise werden die eher leisen Aussagen im Stuhlkreis für alle hörbar. Neben der Würdigung aller Beiträge eröffnet die Referentin mit dem „Echoing“ die Chance, sich selbst noch ein wenig besser zu verstehen. Erst im abschließenden „Interviewing“ sind dann Nachfragen aus der Runde gestattet. „Der Bibliolog lässt sich in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern einsetzen“, berichtet Hemker. Neben dem Religionsunterricht biete diese Methode eine lebendige Form des Gottesdienstes oder ermögliche die Heranführung an biblische Geschichten in der Jugend- und Konfirmandenarbeit.

Im Seminarraum in Steinfurt eröffnet der Bibliolog den Teilnehmerinnen einen ganz eigenen Einstieg in die biblische Geschichte. Schnell merken Referentin und Teilnehmende, dass der Text des Lukas-Evangeliums von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen auf ganz vielfältige Weise gehört und weitererzählt wird. Das eröffnet die Möglichkeit, auch die Perspektiven anderer wahrzunehmen und dadurch die eigene Wahrnehmung zu erweitern. Ein wichtiger Aspekt, meint Hemker, gerade auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Und so staunen auch die Lehrerinnen und Lehrer in Steinfurt, wie viele Stimmen, Stimmungen und Sichtweisen Maria und Josef erfahren haben mögen auf der Suche nach dem zwölfjährigen Jesus.