Kirchenkreis Steinfurt Coesfeld Borken

Wie reagieren auf Vorwürfe sexueller Gewalt?

Pfarrkonferenz des Evangelischen Kirchenkreises informierte über neue Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung.

Pfarrer Ingo Stein (v.li.) und Pfarrerin Heike Bergmann, Beauftragten für sexuelle Gewalt im Kirchenkreis, neben Sozialpädagoge Stefan Wutzke und Superintendent Joachim Anicker.

„Mein Papa schläft bei mir im Kinderzimmer“, erzählt ein kleines Mädchen verunsichert. Urplötzlich stottert ein kleiner Junge, wirkt verängstigt und unsicher. Eine Jugendliche stürzt sich in Fantasiewelten, flieht vor dem realen Leben oder klagt über Schlafstörungen. Anzeichen sexueller Gewalt und Missbrauch fallen vielfältig aus, sind oft nicht eindeutig oder missverständlich. Nach den zahlreichen Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen, in Schulen oder Kirchengemeinden in den zurückliegenden Jahren richteten die Evangelischen Kirchen in Westfalen und Lippe 2013 gemeinsam mit dem Diakonischen Werk eine neue Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung (FUVSS) ein. Der landeskirchliche Beauftragte für die neue Fachstelle mit Sitz in Münster, Stefan Wutzke, sensibilisierte jetzt am Mittwoch, 5. März, während einer Pfarrkonferenz des Evangelischen Kirchenkreises Steinfurt-Coesfeld-Borken Theologinnen und Theologen sowie Mitarbeitende in pädagogischen Einrichtungen für das komplexe Thema.

„Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung im Raum der Kirche, Missbrauch von Schutzbefohlenen, wo edle Motive und Vertrauen fraglos sein sollten, richten in jeder Richtung schwerste Schäden an“, sagt Superintendent Joachim Anicker im Vorfeld der Pfarrkonferenz in der Evangelischen Jugendbildungsstätte Nordwalde. Umso wichtiger sei es, dass „wir in der Kirche verantwortlich und sensibel mit dem Thema – das heißt mit den Menschen – umgehen“, so der leitende Theologe des flächengrößten Kirchenkreises auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche von Westfalen weiter. Vor rund 40 Interessierten aus Kirchengemeinden, Diakonie oder Kindertagesstätten-Trägerverbund referierte dazu Sozialpädagoge Stefan Wutzke, Leiter der neuen Fachstelle unter dem Dach des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe.

Weitere Impulse tragen die Beauftragten für sexuelle Gewalt im Kirchenkreis bei, Pfarrer Ingo Stein von der Diakonie in Gronau sowie Pfarrerin Heike Bergmann, Frauenreferentin des Kirchenkreises. Unter der Überschrift „Grenzen achten, sicheren Ort geben: Umgang mit sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie“ diskutierten die Teilnehmenden Formen und Grenzen sexueller Gewalt von teilweise unabsichtlichen Grenzverletzungen, über bewusste Übergriffe bis zu strafrechtlich relevantem Missbrauch. Immer gehe es dabei, so Referent Wutzke, um eine Verletzung des Rechtsgutes sexueller Selbstbestimmung.

Die Grenzen zwischen oftmals ungewollten Grenzverletzungen, vorsätzlichen Übergriffen und krassem Missbrauch verlaufen mitunter fließend, bestätigte Ingo Stein. „Wie würden Sie urteilen, wenn ein Vater beim Kuscheln im elterlichen Bett dem jugendlichen Sohn über den nackten Bauch streichelt?“, fragt der Theologe. „Wie gehen Sie bei dem Onkel vor, der seine nackte Nichte am FKK-Strand fotografiert? Wir urteilen Sie bei einem Erzieher, der ein achtjähriges Mädchen zwingt, sich vor ihm zu duschen?“, so Stein weiter. Mit einem Interventionskonzept für einen vorgezeichneten Umgang mit Verdachtsfällen gibt die Fachstelle eine erste Hilfestellung. So sei nach den Worten von Wutzke ein unverzügliches Reagieren geboten. Die Reaktion seitens einer Kirchengemeinde, eines Kirchenkreises oder einer kirchlichen Bildungseinrichtung müsse rasch und angemessen erfolgen. Betroffene gelte es zu schützen, Täter  müssten belangt werden. Zudem brauche es stets einen genauen Blick auf die einzelne Situation.

Mit der neu eingerichteten Fachstelle in Münster besteht zusätzlich zum bisherigen Netz der Ansprechpersonen in der Evangelischen Kirche von Westfalen eine zentrale Anlaufstelle für dienstlich Zuständige und für Betroffene in Kirche und Diakonie. Bereits seit 2001 gibt es in der westfälischen Landeskirche klare Regeln zum Umgang mit sexualisierter Gewalt. Dazu liegen auch Arbeitshilfen vor, die Ursachen, Hintergründe und Wirkungszusammenhänge darstellen und konkrete Leitlinien enthalten. Wer den Verdacht hat, dass es in seinem Umfeld zu sexueller Gewalt gekommen ist, kann sich an die Ansprechpersonen der Kirchenkreise wenden, an die Fachstelle in Münster oder auch an andere evangelische Beratungsangebote. Im Evangelischen Kirchenkreis Steinfurt-Coesfeld-Borken sind PfarrerinHeike Bergmann unter Telefon 02562-6088517 und Pfarrer Ingo Stein unter Telefon 02562-701110 ansprechbar. Weitere Informationen zur Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gibt es im Internet unter www.fuvss.de.


Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung

Die Fachstelle in Münster koordiniert die verschiedenen Angebote und erarbeitet individuelle Konzepte zur Vorbeugung. Sie kann Betroffene wie auch Beschuldigte zum weiteren Vorgehen beraten, leistet aber auch erste direkte Hilfestellung. „Einem Verdacht muss immer schnell und konsequent nachgegangen werden. Dabei ist das mögliche Opfer unbedingt zu schützen. Auch die verdächtigte Person darf man nicht vorschnell als Täter abstempeln“, erläutert der Sozialpädagoge Stefan Wutzke.

Auch Menschen, denen vor längerer Zeit im Raum von Kirche und Diakonie sexuelle Gewalt angetan wurde – in Heimen der Diakonie oder in Kirchengemeinden – können sich an die Fachstelle wenden. Ihnen stehen Therapie- und andere Hilfsangebote offen. Außerdem haben Kirche und Diakonie ihren Anteil am Fonds Heimerziehung geleistet, wie vom bundesweiten Runden Tisch Heimkinder beschlossen. Rufnummer für Betroffene: 02 51/2 70 98 88 mittwochs 9 Uhr bis 12 Uhr, außerhalb der Sprechzeiten läuft ein Anrufbeantworter.